20. Oktober 2016 | 10:52 | Kategorie:
6

Leerstand & Tourismus. Mehr als nur Pop-Up-Romantik?

Ausblick

Die Leere?

Sankt Corona am Wechsel also. Gut, war eh noch nie in den Wiener Alpen, dachte ich mir, als ich das Programm der 5. Leerstandskonferenz betrachtete. Wenn Roland Gruber & Co. zum Nachdenken und Netzwerken laden und die Avantgarde der österreichischen Para-Hotel-Bewegung mit ihren Best-Practice auch hinkommt (z.B. Grätzlhotel, Theresia Kohlmayr, Katrin & Dirk Liesenfeld von der Kärntner arte-lodge oder Georg Gasteiger vom Mesnerhof-C) und noch dazu Wojciech Czaja moderiert, dann tut das sicher gut. Motto: Synapsen-Schleudergang, Querdenkerei und den Tellerrand weiter hinter sich lassen.

Ich selbst hab vor der Leerstandsproblematik v.a. im ländlichen Raum höchsten Respekt, denn dafür wird es keine Standard-Lösungen geben. Das ist ein höchst individuelles Thema und betrifft doch immer viel mehr als nur den Liegenschaftsbesitzer. Das zeigt auch ein von Domink Scheuch (ORTE Architekturnetzwerk NÖ) moderiertes GEH-Spräch durch den langgezogenen Tourismusort, der mit der Wechsel-Lounge zwar im 21. Jahrhundert andockt, große Teile entlang der Dorfstrasse aber brach liegen. Keine Schule, kein Kindergarten mehr und kein Bankomat, was einigen TagungsteilnehmerInnen frühmorgens zusätzliche Auto-Kilomter beschert.

Aber zurück zum Kernthema bzw. dem Fazit aus meiner Sicht. Leerstand und Tourismus ist keine Zweckehe, kann aber wirkungsvoll gestaltet werden. 2 Perspektiven:

  1. Temporäre Bespielung durch Kunst & Kultur. Als eine Art Dorflabor, um Veränderungsprozesse zu initiieren. Die Gefahr: Durch die meist außergewöhnliche Nutzung entsteht ein kurzzeitiger Motivationshype. Sind die Künstler weg, verebt die Nachwirkung schnell und man steht vor dem immer gleichen Problem (Eigenkritik: Diese „Nach-Wirkung“ habe ich als Betreiber am Bsp. Hotel Konkurrenz by AO& selbst erlebt. Wir haben uns als projektverantwortliche Institution in der Nachbetreuung nicht intensiv genug um die Betreiberfamilie gekümmert – Nachlese: http://www.kleinezeitung.at/kaernten/feldkirchen/aktuelles_feldkirchen/4747978/Bad-Kleinkirchheim_Mit-Kunst-im-alpinen-Raum-punkten-).
  2. Mutige permanente Konzepte am Beispiel Grätzlhotel (alte Geschäftslokale werden zu Wohn- & Übernachtungsorten), Mesnerhof-C (Leerstandsensemble wird zum Co-Living-Hotspot und damit mehr als nur ein schön revitalisiertes Tiroler Chalet) oder Konzepte wie Urlaub am Bahnhof (ehem. Bahhofsgebäude der Mariazellerbahn beherbergt zwei symphatische Ferienwohnungen). Diese Konzepte funktionieren dort, wo die Standortfaktoren als gesamtes zukunftsfähig sind.

Fazit: Förderszenarien können bei der Reaktivierung von Leerstand helfen (z.B. Zuschuss zur Instandhaltung oder Wiederherstellung der Gebäudesubstanz). Der Impuls muss meines Erachtens aber aus der Regionalentwicklung kommen, denn klassisch gewachsene Tourismusorganisationen, die das Marketing-Handwerk gelernt haben, zeigen immer noch große Berührungsängste mit neuen Handlungsfeldern wie Produktinnovation mit konkreter Umsetzung. Die Frage lautet: Sehen oder verstehen die Destinationen ihren Auftrag? Gibt es den überhaupt?

Lösungsansatz: Die gemeinsame Finanzierung eines regional agierenden „Leerstandskümmerers“ (durch Gemeinde(n), Destination & LEADER-Region), der aufspürt, vernetzt, kommuniziert, betreut und an Lösungen arbeitet, könnte ein erster Schritt sein. Gegenstimmen?
Eines ist aber auch klar. Es braucht zukünftig mutige Kommunal- & Regionalpolitiker, die „Sterbeprozesse“ für Orte oder Ortsteile einleiten und begleiten können. Für jenen Fall, wenn Produktinnovation und alle denkbaren Leerstandsinitiativen nicht mehr helfen. Freiwillige vor! 😉

20. Oktober 2016, 20:31

Zum „Leerstandskümmerer“:

Je peripherer der von Leerstand betroffene Ort liegt, desto weniger „attraktiv“ ist er in der Regel für Regionalentwickler und ihre Organisationen. Da wird aus durchaus nachvollziehbaren Gründen eher versucht die Binnenmigration zu lenken, in dem sogenannte Kristallisationskerne gestärkt werden: Funktionsfähige Standorte (v.a. hinsichtlich Kinderbetreuung, Mobilität), die aber noch nicht Teil von dynamischen Ballungsräumen sind.

Die Fachleute diskutieren eher darüber, ob eine sehr zentralistische „regionale Akupunktur“ in wenigen Hochpotentialräumen erfolgen soll oder auch obere Mittelpotenzialkategorien einbezogen werden sollen. Die allermeisten stark von Leerstand betroffenen (Tourismus-)orte in der Peripherie sind jedoch weder das eine noch das andere.

Die von dir eingeforderte Regionalentwicklung über und mit dem Tourismus findet (meiner eigenen Erfahrung) in diesem Spannungsfeld statt:

Gelingt es im Gesamtpaket ausreichend attraktive Arbeits- und Lebensbedingungen zu schaffen, sodass bestimmte objektive Standortnachteile (Kinderbetreuung/Ausbildung und Mobilität) in Kauf genommen werden? Können Maßnahmen der öffentlichen Hand ─ wie z.B. bei der touristischen Basisinfrastruktur ─ nicht nur Beschäftigung schaffen/sichern, sondern diese Arbeitsplätze dann auch besetzt werden? Wird also Abwanderung verhindert bzw. Zuzug ermöglicht?

Hier der Ergebnisbericht zu dem einschlägigen Projekt „Strategien zur räumlichen Entwicklung der Ostregion – „SRO_peripher_Süd““: http://planungsgemeinschaft-ost.at/pdf/SRO_peripherSUEDErgebnisbericht_2013.pdf

20. Oktober 2016, 23:48

Stefan Heinisch liefert in seinem Beitrag eine treffliche Beschreibung der Situation in St. Corona am Wechsel und der Atmosphäre beim Köpferauchen zum Thema Leerstand und Tourismus. Hier noch einige Überlegungen zu seinen Ausführungen.

Die temporäre Bespielung durch Kunst und Kultur mag ein Ansatz sein, zumal bei der – zumindest vorübergehenden – Befüllung von Leerständen gerne die Kreativwirtschaft bemüht wird. Das bei der Tagung präsentierte Beispiel hat gezeigt, dass die Studierenden einer Kunstuniversität bei der Inszenierung eines gottverlassenen Dorfes mit einer Vielzahl an Leerständen eine spannende Spielwiese vorfinden und die dort – noch – wohnenden Menschen für einige Tage eine willkommene Abwechslung erfahren. Wie die Diskussion dann allerdings ergeben hat, war von Nachhaltigkeit nicht viel zu bemerken. Da drängt sich dann doch der Frage auf, ob es in einem solchen Fall nicht viel gescheiter wäre, die finanziellen Mittel in einen professionell begleiteten und auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Entwicklungsprozess unter breiter Einbindung der Betroffenen zu investieren – zumal sie im gegenständlichen Fall dafür locker gereicht hätten.

Was die Beispiele für die Nachnutzung von Leerständen durch touristische Initiativen anbelangt, so ist hier nur die kleine Spitze eines Eisbergs sichtbar. Es wäre lohnend, solche Beispiele aus Stadt und Land systematisch zusammenzustellen, um daraus zu lernen und potenzielle Akteure zu ähnlichen Schritten zu ermutigen.

Noch kurz zur Frage des Sterbenlassens von Orten oder Ortsteilen wo nur noch wenig oder nichts mehr geht. Dazu hat die Wissenschaft schon einiges zum Besten gegeben. Theoretisch redet es sich leicht und Planspiele auf digitalen Landkarten sind unverfänglich. Wenn man sich bei der Tagung aber die Schlussworte des Bürgermeisters der Gemeinde St. Corona am Wechsel angehört hat, so waren sie von Optimismus geprägt, auch wenn die Sorgen zwischen den Zeilen herauszulesen waren und ein gutes Stück Zweckoptimismus dabei gewesen sein mag. In der Praxis gibt es eben eine Fülle von Zwängen, auch wenn manchmal ein Ende mit Schrecken besser wäre als ein Schrecken ohne Ende.

22. Oktober 2016, 11:24

Zur Leerstandskonferenz ist im heutigen Standard ein Artikel von Lukas Kapeller erschienen:
http://derstandard.at/2000046265718/Leerstandskonferenz-Ideen-gegen-die-reine-Leere.

24. Oktober 2016, 9:00

Lieber Markus,

danke für deinen Input – das hilft der Diskussion sehr. Aus regionaler Sicht bzw. aus jener von Gemeindeverbänden scheint mir Szenario 3 (Regionale Akkupunktur) ein bzw. das einzige erfolgsversprechende Argument zu sein. Siehe auch die Zahlen eures Beispiels – „nur“ minus 3.400 Einwohner bis 2030.

Danke noch mal.

24. Oktober 2016, 9:11

Lieber Peter Haimayer,

danke für deinen Input… vielleicht kann ein „invasives“ Kunstprojekt am Anfang eines „professionell begleiteten und auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Entwicklungsprozess unter breiter Einbindung der Betroffenen“ sein. Als Motivations- bzw. Veränderungsmotor kann das sehr wirksam (polarisierend) sein. Die Kunst kann (wenn ordentlich kuratiert) in der von Harald Katzmair beschriebenen Trauer- & Therapiephase einen guten Dienst erweisen. Wenn man das zulassen will.

St. Corona und Bgm. Gruber sind für mich gute Beispiele, die zeigen, wie Transformation stattfinden kann. Und mit der Wechsel-Lounge und der neu geschaffenen Erlebnisinfrastruktur gibt es einen starken Investitionsmotor, der das Eis brechen kann. Good luck, St. Corona!

25. Oktober 2016, 22:17

Dir ist absolut beizupflichten, Stefan. Die beiden Zugänge, Kunstaktion und begleiteter Entwicklungsprozess können gut und fruchtbringend kombiniert werden. Es ist durchaus Usus und spannend, in bestimmten Phasen von Gemeindeentwicklungsprozessen künstlerische Interventionen einzubringen, wenn auch in deutlich kleineren Dimensionen als im vorgestellten Beispiel. Ob bei einer Größenordnung, wie auf der Tagung dargelegt, Kunstintervention und Entwicklungsprozess finanziell ausreichend bedient werden können, wage ich zu bezweifeln – jedenfalls im Regelfall und in ländlichen Gegenden sowie abseits besonders günstiger politischer und fördertechnischer Konstellationen.

Der Gemeinde St. Corona am Wechsel und ihrem engagierten Bürgermeister wünsche ich ebenfalls viel Glück. Die weitere Entwicklung werde ich im Auge behalten, einmal aus fachlichem Interesse und zum anderen, weil ich in meiner Opa-Rolle immer wieder Freizeit in den niederösterreichischen Alpen verbringe. Daher habe ich – im Wettstreit mit dem Nachwuchs – auch die Stationen im Motorikpark St. Corona bereits bewältigt.

Kommentieren

Ihre Daten werden im Rahmen der Kommentarfunktion gespeichert, darüberhinaus aber für keine weiteren Zwecke verwendet. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Kommentar zurücksetzen